Sonntag, 4. Juni 2017

Der Silberfischzug



"Wem – wenn nicht einer Katze – kann eine Maus voll und ganz vertrauen?" bezirzt der stattliche Worthing die kleine weiße Maus und legt ihr dabei die Pfote auf die Schulter. Der freundliche Kater hat mal wieder einen fahrbaren Untersatz im Angebot und sucht dafür ein Opfe…äh…eine Träumerin mit Visionen.

"Der hat tierisch viele Pferdestärken unter der Haube, die dich in Nullkommanix auf fast Lichtgeschwindigkeit katapultieren." Der Kater nutzt alle Tricks, die eigentlich immer bei den unentschlossenen Interessenten verfangen: "Das ist noch eine gute alte Verbrennungsmaschine, die noch richtig was rausrotzt!"

Aber eine kleine weiße Maus ist noch nicht überzeugt: "Fressen die ganze Pferde einem nicht die Haare vom Kopf?" Sie will doch künftig nicht kahlköpfig durchs Leben gehen. Dann kann sie ja gleich nur noch im Auto hocken bleiben, damit sie keinen Sonnenbrand auf dem Kopf bekommt.

Das wird ein schwieriger Fall. Der Kater nimmt einen neuen Anlauf. "Das ist doch alles eine Frage des richtigen Winkels der Betrachtung," schnurrt er.

"Und den besten Winkel hat maus natürlich hinterm Lenkrad." Er lotst die weiße Maus auf den Fahrersitz. "Das ist doch die richtige Perspektive – der Blick über eine endlose Motorhaube." Jetzt beginnt es zu laufen: "Und hast du diese unglaublichen Flügeltüren bemerkt? Gibt es eine coolere Art sich ins Cockpit zu schwingen?"

Autsch! Worthing hatte vergessen, wie gefährlich diese Flügeltüren sind.

"Kein Problem! Kein Problem! Ich lasse die Gasdruckfedern nachstellen," murmelt der Kater am Boden. "Wir sollten jetzt die Probefahrt machen."

Hoffentlch klappt es diesmal, dass er den Wagen los wird. Worthing presst sich auf den Beifahrersitz. Er ist einfach zu stattlich für diese handschuhengen Sportwagen.  Er fühlt sich dabei immer wie die Sardine in der Büchse."Jetzt aber los: Gentlemouse start your engine!"

Wenig später rollt der Silberpfeil mit brubbelnden Motor wieder aus. Er hat eine schnelle Runde durch die grüne Hölle gedreht.

"Das ist doch ein Erlebnis, das du nie wieder missen möchtest.," umgarnt er die Maus, als die leider viel zu schnell wieder aus dem Auto klettert. "Und du bekommst es auf Knopfdruck. Wenn du den Startknopf für den Motor am Armaturenbrett drückst und die Hölle losbricht."

Eine kleine Maus entzieht sich der Umklammerung der säuselnden Miez. "Ich glaube, ich hätte doch lieber ein feuerrotes Auto." Der Kater versucht sie wieder ins Auto zu locken. Aber das Mausetier winkt ab. Sie kann noch so oft in sich reinhorchen, aber da brennt nichts. Der Kater kann ruhig darauf abfahren.

"Denk am meine Worte, du wirst dieses Fahrgefühl nie wieder missen wollen!", ächzt Worthing als er sich selber hinter das Steuer klemmt und dann nur knapp die Flügeltür zuziehen kann. Gibt es nicht hier auch eine Einstiegshilfe für Fahrer, wie es auch einen Schuhlöffel für enggeschnittene Slipper gibt? Vielleicht waren die Kater früher einfach kleiner. Deshalb wäre eine Maus als neuer Besitzer auch einfach perfekt. "Wenn die Beschleunigung dich in den Sitz presst, und du dabei kaum atmen kannst, wirst du spüren, dass du lebst." Die kleine weiße Maus hält einen kurzen Moment inne. Spürt sie nur das Leben, wenn sie gerade keine Luft bekommt? Wird ein Leben dadurch kostbar, wenn es gerade zu schwinden scheint?

'Denk an meine Worte' … in seiner langen Zeit im Autohandel hat der Kater gelernt, dass manche Kunden einfach mehr Zeit brauchen. So gibt er ihnen zum Abschied immer etwas, woran was sie noch länger knapsen können. Und hofft, dass die Zeit für ihn arbeitet.

Vorher werden einer kleinen Maus fast die Ohren weggeblasen, als der Kater den hochgezüchteten Rennmotor startet.

Schnell sucht der kleine Nager das Weite, um den ungedämpften Motorgeräuschen und heißen Abgasen zu entkommen.

Während der Kater den Wagen mühsam wendet und dabei den Motor immer wieder aufheulen lässt, hält sich die weiße Maus die Ohren zu. Es ist nicht nur die Farbe, die sie zögern lässt.

Noch einen letzter Korrekturzug, dann hat der Kater den glänzenenden Boliden wieder ausgerichtet. Der duckt sich sich zum Sprung wie ein wildes Raubtier – während drinnen fluchend der stark gepresste Fahrer immer noch versucht, den Gang krachend einzulegen. Das ist alles viel zu eng für normalgebaute Miezen.

Da saust der Silberpfeil donnernd davon. Eine kleine Maus zieht pfeifend die Luft zwischen den Zähnen ein und denkt noch einmal über diese letzen Minuten nach. Sie hört dabei in sich hinein: Sie vermisst … sie vermisst jetzt … gar nichts.


Fotos: W.Hein

Der Mercedes 300 SLR war 1955 ein Quasi-Einzelstück, das ein mühsam kaschierter Formel 1-Renner seiner Zeit war. Vom leitenden Renningenieur Rudolf Uhlenhaut als sein persönliches Dienstfahrzeug entworfen, war es schon damals erstaunlich, dass er für dieses 290 km/h schnelle Geschoss eine Straßenzulassung bekommen hat. Bei nur zwei gebauten Exemplaren ist klar, dass die Zahl der verkleinerten Kopien die Originalmenge um ein vielfaches übertrifft. So kommt auch der Kater Worthing von Deb Canham an so einen Silberpfeil, den er hier vergeblich anpreist. Denn so viel Benzin im Blut hat eine kleine weiße Maus (auch von Deb Canham) nicht, dass sie diese einmalige Gelegenheit gern fahren lässt. Das ist für ihre feinen Ohren auch deutlich gesünder, denn der damalige Renningenieur Uhlenhaut wurde schon in jungen Jahren von Schwerhörigkeit geplagt.


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