Es begibt sich am Abend des Vierundzwanzigsten:
Albert nimmt noch einen letzten Schluck. Victoria hat recht, er sollte nicht aus Langeweile trinken. Da greift er sich lieber ein gutes Buch, während die anderen auf die Bescherung warten.
Die kleinen Mäuse warten auf den Weihnachtsmann. Sie haben sich alle so aufgebaut, dass sie die Tür genau im Auge haben. Da muss er reinkommen, wenn er die Geschenke abliefern will. Denn im Kamin lodert ein Feuer und der Schornstein ist viel zu eng für all die Päckchen, die es hoffentlich heute noch geben wird. Unruhig trippeln sie von einer Pfote auf die andere. Sie können sich leider gar nicht mehr erinnern, ob die Warterei vor einem Jahr auch so ewig lang gedauert hat.
Die Kleinen tragen alle eine rote Weihnachtsmütze. Nicht weil sie sich gegenseitig beschenken wollen. Stattdessen soll der Weihnachtsmann gleich wissen, dass er hier gern willkommen ist.
Der so plötzlich hereingeschneite Gast (und das erstaunlicherweise ganz ohne Schnee) trinkt noch eine heiße Schokolade. Er rechnet sich bei den Geschenken ohnehin nicht viel aus. Wer unangemeldet zu Besuch kommt, sollte nichts erwarten.
Jack springt auf. Da ist doch ein Auto vorgefahren. Ach was, das hat so getuckert, das ist ein ganzer Lastwagen. Es dauert eine Weile, dann stirbt der Motor endlich ab. Das müssen seine Geschenke sein! Viel länger hält er diese Spannung nicht aus.
Die kleinen Mäuse sind jetzt mucksmäuschenstill und lassen die Tür keine Sekunde aus den Augen. Die Haustür klappt auf und zu. Dann hören sie Getrappel, Scharren und das Schleifen von schweren Dingen auf dem Boden. Dazu leises Fluchen und immer wieder ein scharfes "Psst"-Zischen. Wenn sich doch nur endlich die Tür öffnen würde.
Endlich kommen sie … der Weihnachtsmann und seine Rentierhelfer, die all die vielen Päckchen, Pakete und Kartons reintragen müssen. Doch was ist das? Das sind ja zwei Weihnachtsmänner! Gibt es jetzt so viele Geschenke, dass es ein Weihnachtsmann nicht allein schafft?
"Das ist mein Haus!" schimpft der blaue Weihnachtsmann. "Die letzte Bescherung hast du gemacht, jetzt bin ich dran." "Nein, nein, nein," widerspricht der Rote. "Wir wollten es siedlungsweise machen. Also bin ich immer noch an der Reihe."
Das ist doch Bescherungsklau. Dafür sollte es doch eine Weihnachtspolizei geben. Der kann der blaue Weihnachtsmann gleich sein Leid klagen: "Das ist meine Schenkung. Die lasse ich mir nicht von so einem roten Nikolaus-Imitat von so braunen Brausefritzen stehlen. Der kann ja die Supermärkte und Trinkhallen nehmen. Da wo sie diese rot gewandete Cola auch verkaufen, kann er sich gleich danebenstellen."
Der Polizist muss sich erst einmal einen Überblick verschaffen. Normalerweise rufen ihn die Leute, wenn Geschenke fehlen oder jemand den Inhalt durch billige Raubkopien aus dem Internet ersetzt hat. Oder wenn der Weihnachtsmann und seine Helfer ganz verschwunden bleiben und eine "Vermisstenanzeige nach drei Tagen" viel zu spät kommen würde. Wer will noch einen heiligen Abend feiern, wenn alle anderen schon darüber nachdenken, wann sie den Baum wieder rausschmeißen dürfen. Aber zu viele Geschenkebringer auf dem Fest … das ist doch eher die Ausnahme.
Auch die Befragung der Helfer bringt keine Klarheit. Sie laufen ja nur mit und haben schon genug Stress, die ganzen Pakete ins Haus zu bekommen. Da achten sie nicht darauf, wer vorn die großen "Ho-Ho-Ho"-Reden schwingt.
Aber eine Weihnachtspolizei gibt es überhaupt nicht. Die hat sich der blaue Weihnachtsmann nur ausgedacht. Doch wenn es hier in echt keinen Polizisten gibt, muss er mit diesem frechen roten Vordrängler eben allein fertig werden: "Es ist mein Auftritt. Ich frage, wer brav gewesen ist. Du kannst derweil ja die Paketanhänger vorlesen."
"Na gut, wir teilen", lenkt der Rote ein. "Du nimmst die dicken Dinger und ich verteile den Kleinkram." Die Helfer sind froh, dass es endlich weiter geht. Sie haben schon die Pfoten voll mit Päckchen und die Arme werden langsam schwer.
"Ho, ho ho, wer ist denn im letzten Jahr brav gewesen?" Der Weihnachtsmann in Rot kann es nicht lassen. Die kleinen Mäuse sind entrüstet: Natürlich alle! Außerdem sollte das bei der Geschenkevergabe keine Rolle spielen. Hat nicht jeder ein naturgegebenes, unveräußerlisches Recht auf Weihnachtsgeschenke?
Auch der blaue Nikolaus winkt eifrig die schwer beladenen Helfer zu sich. Er will ja nicht ins Hintertreffen geraten und am Ende wie der arme Wicht aussehen, der nichts zu verteilen hat. Da muss die Übergabe auch etwas schneller gehen. Er kann sich nicht mit Formalitäten aufhalten, wenn er ordentlich Umsatz machen will.
Die kleinen Mäuse haben nichts dagegen. Sie nehmen alles, was schön verpackt ist und ihnen in die Pfoten gedrückt wird. Nach all dem Gewusel müssen sich die beiden Geschenkeverteiler erst wieder einen Überblick verschaffen, bevor sie zum Endspurt ansetzen.
Das Jungvolk ist reich beschenkt und schon ziemlich glücklich. Weil es jetzt alles so schnell ging, haben sie zunächst gesammelt und noch nichts ausgepackt. Sonst wäre am Ende die Geschenkekette gerissen: Jemand hätte sich schon jemand unkontrolliert gefreut und hätte im entscheidenden Moment keine Pfote frei gehabt …
So, jetzt haben sie aber das Gros abgegriffen und gleich kann das große Fetzen beginnen.
Jack hat endlich sogar Zeit für ein Plätzchen. Die stehen doch schon den ganzen Abend bereit. Die Weihnachtsbäckerei ist in den letzten Tagen sehr fleißig gewesen und hat sich auch selten ablenken lassen. Aber bis jetzt hat der Mausejunge vor lauter Aufregung noch keinen Bissen runter gekriegt.
Der weiße Bär hät sorgsam sein unerwartetes Glück in den Pfoten. Er kann es nicht fassen. Obwohl doch keiner mit ihm rechnen konnte, hat er dennoch ein Geschenk bekommen.
Nun ist Victoria dran. Der blaue Weihnachtsmann nimmt sie beiseite und bittet sie, mit ihm an der Tür zu warten. Denn viel weiter werden sie ihr Geschenk nicht in den Raum bekommen.
Die Geschenkepacker ächzen unter der Last. Sie wuchten ein Riesenteil heran, das den ganzen Türrahmen verdunkelt, als sie es durchschieben wollen. Victoria hat in diesem Moment eigentlich nur Angst um das Parkett. So sehr kratscht es über den Boden, als die Rentierhelfer dieses dunkle sperrige Monstrum fluchend über die Schwelle heben wollen.
Sie nehmen einen neuen Anlauf, diesmal geht der stärkste Helfer ans vordere Ende. Das sieht schon besser aus, auch wenn immer noch so ein fieses Kratzen von Holz auf Holz die schweißtreibende Wuchterei begleitet.
Aber sie müssen ja auch aufpassen, das nichts verrutscht. Denn so ein Möbel ist viel zu groß, da gibt es keinen passenden Bogen Geschenkpapier, der das Innere gnädig verdeckt. Also ist alles schon fertig dekoriert und wackelt gefährlich hin und her, während sie versuchen, damit heil ins Wohnzimmer zu kommen.
Victoria ist sprachlos. Sie hat sch immer Käse satt gewünscht. "Am Besten eine ganze Vitrine voll." Aber sie hat nie damit gerechnet, dass gleich die Vitrine mitkommt.
"Das ist dein Weihnachtsgeschenk – auch ohne Papier und Schleifchen!" nickt die blaue Weihnachtsmaus. Ob Victoria auch brav gewesen ist … nun die Frage erübrigt sich hier. Als Victoria ihre Sprache wiedergefunden hat, lässt sie das Möbel gleich an Ort und Stelle abstellen. Wo sie diese Köstlichkeit hinstellen soll, weiß sie noch nicht. Aber eine Käsevitrine im Wohnzimmer ist selbst für Mäuse eine zu große Versuchung.
"Albert, hast du das gesehen?" ruft Victoria in die hinterste Ecke. "Wir haben einen Schrank voller Käse bekommen! Es ist alles dabei: Edelschimmel, Rohmilch und Höhlenkäse. Das magst du doch auch: grün-marmorierter Salbei-Cheddar aus England." Wo ist der Kerl nur, wenn es gerade so schön ist?
"Nur einen Moment, mein Liebes. Es sind nur noch wenige Absätze. Dann ist das Kapitel zu Ende."
Nun diese Bescherung ist noch lange nicht vorbei. Aber hier gibt es keine weiteren Worte.
Idee: ScnheiderHein Fotos: W.Hein
Die ungeduldigen Mäuse, die Weihnachtsmänner und ihre Helfer kommen alle von Deb Canham. Der plötzliche Gast ist ein Eisbär von Clemens und der erfundene Weihnachtspolizist ein Bär von Zhana Zimokosova. Im Weihnachtzimmer stehen überall die Miniaturen von Mellisminis, Minisforall, MelliMirco, Minis1zu12, Soallerlei und noch einigen anderen. Das Prunkstück des Abends, die Käse-Vitrine, kommt von Dreamhobby und sollte noch einen ganz anderen Auftritt haben. Aber wenn dafür eine Victoria einige Bilder lang sprachlos ist, da kann man die Premiere auch mal vorziehen.