Der Sensei wird schon wissen, was er tut. Der Kohai ist gewohnt, nicht allzu viele Antworten auf seine Fragen zu bekommen. So sammelt er inzwischen wortlos die ganzen Papiere ein, die sein Meister beim Studium im ganzen Raum verteilt hat.
Der Sensei nimmt einen Tee – auf die Schnelle ohne lange Zeremonie – bevor er das nächste Dokument greift. Eigentlich kennt er die Schriftzeichen längst auswendig, aber im Raum zwischen ihnen – dort wo sie nicht sind – liegt wahrscheinlich die wahre Bedeutung seiner ständigen Bemühungen.
Deswegen darf sein Schüler die Reispapiere auch nur ein wenig zur Seite schieben, um den Tisch mit einem leichten Mahl zu decken. Zwei dürre Sardinen, etwas Misosuppe und einen kleinen Sake zum Spülen der inneren Organe. Der sollte nur etwas mehr als Zimmertemperatur haben, doch der Kohai hat ihn fast aufkochen lassen.
Es wird Zeit, den Wandschirm vor dem Fenster wegzurücken. Der schützt den Schlafplatz vor zu viel Licht. Den Futon will der Schüler gerade einrollen, um etwas mehr Platz im vollgestopften Sechs-Matten-Raum zu bekommen.
Doch schon hat der Meister auf dem Bodenbett Platz genommen, um eine neue Folge seine Lieblingsserie "Tokyo Police Squad" im Schwarzweißfernseher zu sehen. Das findet er deutlich spannender als diese sieben Samurai oder ein Schloss im Spinnwebwald. Nur, das ist der Nachteil eines Lebens ohne Stechuhr und Sekundentakt – die Serie läuft noch gar nicht. Stattdessen ruckelt es draußen an der Schiebetür … schnell schieben die beiden den Wandschirm wieder vor die Glotze.
Der alte Wolf greift zum Langschwert und stellt sich den Eindringlingen. Wer auch immer unangemeldet hier reinplatzen will: Er ist bereit.
Das Schwert ist eigentlich nur ein besserer Brieföffner. Aber das wissen die da draußen ja nicht. Der Schüler soll sich nur hinter seinem Rücken halten. "Kommt nur – es ist offen!"
Die Schiebetür öffnet sich einen Spalt und eine kleine weiße Maus schiebt sich mit Jack herein. "Äh hallo," ruft sie dem riesigen Wolf in seinem abgewetzten Kimono zu, der sie gleich in einer 'Äkschnpose' mit gezücktem Schwert begrüßt. "Da sind wir froh, dass wir Euch gleich gefunden haben. Das ist nämlich gar nicht so einfach bei diesen Zeitreisen."
In Japan sind sie auf Anhieb gelandet. Das mit der passenden Zeit müssen sie noch sehen. Es ist auf jeden Fall die Kirschblüte im Frühjahr.
Die Maus studiert die Karte. Japan ist viel größer als gedacht, wenn es überhaupt der richtige Plan ist. Raum-Zeitreisen sind vielleicht unheimlich praktisch, aber eben auch ziemlich unübersichtlich. Jack hat sich inzwischen längst daran gewöhnt, dass der Wagen immer vereist ist, wenn sie irgendwo ankommen. Er hat sich längst mit Mütze und Schal gewappnet und passt auf, dass er mit bloßen Pfoten nicht das eisekalte Blech berührt.
Die beiden Nager haben sich mit Händen und Pfoten zum Meister durchgefragt und sind überglücklich, dass sie ihn so schnell gefunden haben. Er muss ihnen unbedingt ganz eilig helfen.
Der Kohei packt rasch die verstreuten Papiere und Dokumente zusammen. Wenn der Sensei den beiden sicher helfen kann, braucht er doch Platz.
Der Schüler lässt die Dokumente hinter dem Wandschirm verschwinden, der immer sehr praktisch ist, wenn etwas aus dem Blick sein soll.
Ein Blatt Reisparpier hat der Kohai dabei übersehen. Jack hebt es auf und wundert sich, dass überhaupt jemand diese Krakel lesen kann. Er weiß ja noch nicht einmal, ob das Ganze von links nach rechts, oben nach unten oder wie auch immer gelesen wird. Das sei alles möglich, wird er belehrt, denn es ist ein japanischer Pass. Den hätte früher jeder Samurai gebraucht, der sich frei im Lande bewegen und nicht als Ronin geächtet werden wollte.
Die beiden Gäste staunen nicht schlecht, wovon so ein riesiger japanischer Wolf satt werden will. Hier sind ja nicht nur die Tische winzig, die Portionen sind es auch. Doch sie sind ja nicht gekommen, um fremde Tischgebräuche zu studieren.
Es wird Zeit für ihr Anliegen. Die Mäuse sind gekommen, um Jui-jitschu-bi-du und Kara-Tee zu lernen. Am Erstbesten natürlich von einem echten Meister. Und wenn sie schon mal da sind, üben sie am Zweitbesten auch noch den Schwertkampf mit Samuraiklingen.
Die kleine weiße Maus führt gleich vor, was sie schon alles kann.
Und landet im Überschwang gleich auf den Matten, um wie ein Käfer auf dem Rücken zu strampeln.
Die Nager brauchen all diese Kampftechniken, weil in letzten Zeit sie immer wieder auf riesige Roboter gestoßen sind. Diese Stahlkolosse blicken mit ihren rot durchdringenden Leuchtaugen immer so unheimlich auf die Mäuse. Freunde der "Erdlinge" sind sie auf keinen Fall. Also müssen die Mäuse unbedingt die Selbstverteidigung beherrschen und die Meister dafür sitzen doch alle in Asien und besonders in Japan. Weil dort alle auch so klein sind. Und sitzen müssen die beide als Erstes üben. Sitzen … alles abstreifen … das Gefäß leeren … die eigene Mitte spüren.
"Können wir nicht erst …" die kleine weiße Maus hat eigentlich nicht so viel Zeit. Doch der Meister schüttelt den Kopf und bedeutet ihr mit einem Kopfnicken weiter zu schweigen. Die beiden brauchen wirklich Hilfe, da kann er ihnen den Unterricht nicht abschlagen. Das wird viel Zeit brauchen. Und so hektisch, wie die beiden noch sind – sehr viel Zeit. Das mit den Schwertern können sie auch vergessen. Sein Raum ist so klein, da würden die beiden Neulinge vorher alle Wände in feine Streifen schneiden, bevor sie auch nur einen richtigen Hieb beherrschen würden.
Die Mitte finden ist ganz schön öde. Hoffentlich bleibt dann noch Zeit, diese Juijitsufufukaratebudozeugs zu lernen. Rumsitzen konnten die beiden Mäuse doch schon vorher.
Auch der Sensei fragt, ob es nicht etwas voreilig war, die neuen Schüler so schnell anzunehmen. Die brauchen sicher Wochen, bis sie so weit sind, den ersten Handkantenschlag zu tun. Und in wenigen Minuten beginnt doch sicher seine Lieblingsserie im TV hinterm Schirm.
Wenig später muss die noch flüchtige Mitte mal Pause machen. Der Gehilfe hat ein großes Buffet aufgetischt. Wenn sie schon Gäste haben, können sie sich doch nicht lumpen lassen. Es reicht ja schon, dass der alte Meister nicht aus seinem abgewetzten Kimono schlüpfen mag.
"Pst! Hättest du nicht draußen auftischen können." Der Sensei nimmt seinen Kohei beiseite. Dann hätte er inzwischen die Polizei Squad bei ihren Verfolgungsjagden verfolgen können. Er hätte den Ton ganz leise gstellt, denn die hellhörigen Wände sind ja nur aus Papier. 'Draußen'? Der Schüler zuckt verständnislos mit den Schultern. Sie haben doch nur diesen einen Raum. Na dann wäre es eben ein Picknick geworden.
Die beiden Mäuse sind froh, dass endlich dieses Stillsitzen aufhört. Da hat der Gehilfe wirklich dick aufgetragen. Alles ist so bunt und … wirklich … also alles … ist fischig …
Und dazu gibt es nur diese dünne grüne Plörre. Jack hätte gern Pommes und eine Cola, wenn es gleich mit der Schwerstarbeit hoffentlich endlich losgeht. Sie sollten nur dorthin Zeitreisen unternehmen, wo die Versorgung mit seinen Lieblingsspeisen gesichert ist.
Jetzt müssen sie wohl höflich sein, um den Meister nicht zu verärgern. Wenn er sich dabei die Nase zuhält, bekommt Jack vielleicht so einen bunten Happen mit einem Happs hinunter.
Jack kann sich noch nicht entscheiden, mit welchem Sushi-Stück er beginnen soll. Nicht zu groß und etwas ohne Kanten und Fransen. Der Sensei wartet und wartet. Er schielt inzwischen zum Wandschirm. Dahinter verhört der Kommissar Ito-San sicher schon den ersten Verdächtigen.
Fotos: W.Hein
Honshu im Kimono kommt von Victoria Kukalo (Ukraine). Einem japanischen Wolf konnte ich nicht widerstehen, zumal er schon in der japanischen Mythologie ein Verteidiger der Hilflosen und Schwachen ist. Vielleicht ist sein Bild so positiv, weil er von allen Wölfen der Kleinste gewesen ist und deswegen viel weniger gefährlich als seine europäischen und amerikanischen Verwandten. Für seine Rolle musste er noch ein wenig warten, bis ein passendes Heim gefunden war. Und auch die beiden Mäuse von Deb Canham mussten ihre Zeitmaschine erst wieder starten. Der Kohei kommt ebenfalls aus Amerika ist über den Pazifik gehüpft um in Japan anzukommen. Die DeLorean-Zeitmaschine landet dort in Nara mit der Hilfe der Bilder von Shutterstock (ESB Professional, Sean Pavone, ElessarDesign).
Als sie endlich lang genug den Mattenboden gedrückt haben und der Meister genug Folgen der Tokyo Police Squad verpasst hat, kann er ihnen nichts mehr beibringen. Den Schwertkampf haben sie noch nicht geübt, aber das hindert eine kleine weiße Maus nicht daran, etliche Mitbringsel einzupacken. Wenn sie in der Zukunft eifrig mit den blitzenden Klingeln umherfuchtelt, kann ja keiner wissen, was sie alles gelernt hat. Als Roboter wäre sie auf jeden Fall vorsichtig.
Sie setzt schon die Sonnenbrille für den Start auf, damit sie die grellen Lichter nicht blenden. Endlich kommt Jack. Er hat sich verspätet, weil er schnell noch den japanischen Pass geholt hat.
Der Mäuserich weiß ja nie, wohin ihn die nächste Zeitreise verschlagen wird.