"Sitzt ihr auch bequem?" Der Professor kann es gar nicht erwarten, den beiden etwas über sein liebstes Thema erzählen zu können. Und das hat natürlich mit Sitzen zu tun. Sonst wäre er doch nicht der Leiter in einem Stuhlmuseum.
Alice ist schon gespannt wie ein Flitzebogen, um etwas über das moderne Sitzen zu erfahren. Jack ruckelt sich noch auf den runden Lederkissen zurecht. Das Auge sitzt mit, bevor er zwischen die Ritzen rutscht. Bequem ist doch was anderes. Aber nun sind die beiden Mäuse heute Besucher im Designmuseum. Victoria und Albert sind längst weitergegangen und sie bekommen dafür einen kostenlosen Vortrag:
Der Professor fängt schon mal, auch wenn der kleine Matrose noch lange nicht still sitzen kann. "Um 1860 erfindet Michael Thonet den Wiener Kaffeehausstuhl aus Bugholz. Der ließ sich einfach und seriell herstellen und hatte keinen überflüssigen Schnickschnack. Der Stuhl war sogar so reduziert, dass manche Zeitgenossen sicher zu Anfang Bedenken haben, ob das gebogene Holz danach halten würde …"
"In den 1870ern kamen die Deutschen zu einem eigenen Kaiserreich und entdeckten ihre eigene Geschichte wieder neu. Die Gotik war so eine frühere Glanzzeit mit einem gemeinsamen Kaiser. Also baute man den Kölner Dom endlich fertig. Auch sonst gab es dafür eine Neugotik, die im Wohnzimmer etwas dunkler und schwerer werden konnte …"
"Im nächsten Jahrzehnt war man Gründer – vielleicht sogar Fabrikant. Alles wurde plüschiger und pleureusiger. Man mischte die Stile der vergangenen Jahrhunderte – wenn es nur repräsentativ und bequem war. Es durfte gern ein bisschen mehr sein … und noch etwas mehr …"
"Dann kam die Jugend. In der 1890ern hieß der neuste Trend auch so: Jugendstil. Alles war in Bewegung, floss in floralen Formen nur so dahin. Dafür waren die meisten Stücke aufwändige Einzelstücke, die sich nur der gehobene Geldbeutel für den dann gehobenen Geschmack leisten konnten. Es war aber auch endlich modern, weil dafür nicht die vergangenen Jahrhunderte geplündert werden mussten …"
In den Jahren ab 1900 waren moderne Möbel immer noch eine Sache für die Oberschicht. Charles Rennie Macintosh hat seine Möbel mit den entsprechenden Häusern gleich mit entworfen. Sie waren Einzelstücke der einmaligen Innenausstattung. Erst 50 Jahre später haben italienische Möbelfirmen daraus so etwas wie ein Massenartikel gemacht. "Moderne Klassiker" heißt es seitdem, was für eine irre Wortschöpfung …"
"Gerrit Thomas Rietveld baute ab den Zehnern Möbel wie ein Bild. Sein Stuhl aus geraden Brettern hatte die gleiche Strenge und Farben wie ein abstraktes Gemälde von Piet Mondrian. Und stand am besten in einem weißen Würfelhaus mit Flachdach und rechtem Winkel. Das sollten die neuen Arbeitersiedlungen werden. Die Arbeiter haben es aber gern etwas bequemer …" Nicht nur die, auch Jack! "…, deshalb leben in diesen Siedlungen inzwischen die Studienräte. Und die meisten dieser bunten Bretter-Stühle sind Visitenkarten des 'guten' Geschmacks und Staubfänger im Eingangsbereich …"
"Das Bauhaus wollte die Industriematerialien in die Wohnmaschinen bringen. Stühle wie mit dem Bleistift gezeichnet, aus glänzend verchromten Stahl schwingen sanft unter dem Sitzfleisch. Das rutscht vorsichtig auf dem Leder nach vorn und hofft, dass beim Aufstehen, der Stuhl nicht gleich mitkommt …"
"Die Nationalsozialisten nutzen als 'Bewegung' die Errungenschaften der Moderne, wenn sie zur Repräsentation nützlich waren. Ein Lichtdom aus Scheinwerfern beeindruckte alle. Sonst hatten sie in der Bevölkerung am Liebsten Ruhe. Und 'völkisch' für alle war dann oft gern auch gemütlich …"
"Die Vierziger wurden dann eher ungemütlich. Die Möblierung der Wohnungen war eher unbedeutend, wenn es überhaupt eine Wohnung gab …"
"Mit Volldampf voran ging es mit dem Wirtschaftswunder in den Fünfzigern. Wer auf der Höhe der Zeit sein wollte, liebte es dynamisch. Mit ein wenig Stromlinie sausten die kleinen Freuden in Cocktailsessel, Tütenlampe und Isetta in die Verheißungen der Zukunft. Höher, weiter … bis in den Weltraum im kommenden Jahrzehnt …"
"Es gab auch die nüchternen Sechziger. Die praktisch den Wohlstand verwalteten. Modern war das Abschneiden der überbordenden Extravaganzen der Fünfziger: Ohne Heckflossen, bunte Partylichter und mit geradem Linien in der Mode und bei den Sitzmöbeln. Nüchtern und cool wie die silbernen Zigarren, die zum Mond fliegen sollten …"
"Das Erbe der 68er ist der Verzicht auf die strengen Konventionen. Ein orange Sitzsack ist kaum der Bodenkultur entwachsen und eignet sich niemals zum gravitätischen Thronen auf ererbten Besitzständen …" Jack rutscht immer unruhiger auf dem Sofa umher. Was meint der Brotfresser damit bloß? Und müssen sie wirklich in jedem Jahrzehnt Station machen? "… Bunt, frei, anders so wollten die aufgeklärten modernen Deutschen sein, oder sich wengstens so fühlen …"
"In den Achtzigern hatten wir fast alles schon gesehen. Es konnte doch kaum besser werden, nur bunter, spielerischer und nicht alles ernst gemeint. So kamen die bunten Möbel nun aus Memphis … Ägypten oder Memphis Tennessee … ist doch egal! Oder sind das doch Kinderspielzeug für Erwachsene gegen Waldsterben, Tschernobyl und den kalten Krieg? …" Jack zuckt die Schultern. Das sollte das Brillengestell doch selber wissen, wenn er dabei gewesen ist.
"Die Neunziger feierten eine neue Klarheit und Ernsthaftigkeit. Die konnte man sich prächtig hinstellen, damit jeder das neue Sein bewundern konnte. Man selbst kuschelte mit Sekt in den postmodernen Polstersesseln der alten Zeiten. Natürlich nur eine Maske des schönen Scheins, die hinten mit dürren Beinchen aufrecht gehalten wurde …"
"Zur Jahrtausendwende zeigten viele Möbel, was inzwischen technisch möglich geworden ist. Filigrane Konstruktionen aus dem Computer mit den Materialien der Weltraumforschung. Filigrane Tragwerke, die man stapeln kann und wo scheinbar zufällig eine Strebe noch die Pobacke hält …"
"Inzwischen braucht es kein Design mehr, das nach 'mehr Fortschritt' und 'Noch-nie-dagewsenen-Geschmack' riechen muss.Wer im 'Gamer-Chair', dem modernen Nachfahren von Autositz und 'Stressless'-Sessel des Rentnerheims vergangener Zeiten, gleich in virtuelle Welten abtaucht, der braucht keine Dinge im Diesseits des Anfassbaren. Auch die neusten Möbel sehen aus, als wären sie vorher schon mal da gewesen …" Jack ist aufgesprungen, denn sie haben es ja wohl bald geschafft.
Alice zupft Jack am Arm. Sie sollten doch noch warten, bis der Professor noch etwas von "Klimawandel … Nachhaltigkeit … und äh 'Fridays for Future' …" murmeln kann. Das ist doch unhöflich, auch wenn sie die Gegenwart selbst kennen. "Muss der Eisbär denn keine Maske tragen?" "Nicht wenn er sich an die Abstandsregeln hält." Doch nun müssen sie wirklich weiter. "Tschüss … und Danke!" rufen Alice und Jack: "Wir müssen die anderen suchen."
Albert und Victoria haben sie schnell gefunden. Die beiden haben inzwischen die anderen Säle besucht, aber dort stehen nur weitere unbequeme Sitzmöbel. Albert hat nichts gefunden, das es mit seinem bequemen Lehnsessel aufnehmen kann. Wahrscheinlich hat man die ganzen Möbel hier eingelagert, weil sie zuhause rausgeflogen sind. "Und Jack, wie findest du diesen Nachmittag im Museum?"
Wenn Jack nur die Augen schließt, weiß er sofort, wie sein Museum aussehen würde. Da würden ihn auch keine zehn Pferdestärken rausbringen. So können sie aber auch gern wieder gehen, bevor noch jemand kommt und dieses Gequatsche von vorn losgeht.
Der Professor sieht sich zufrieden in der Sammlung um. Heute haben zwei Nager viel mehr über das Sitzen gelernt, als sie noch Morgen ahnen konnten. Das ist doch genau das, warum er diesen Job hier macht …
Fotos und Zeichnungen: W.Hein
Die Zeichnungen von Stuhl, Licht und Bär entstanden bis auf die letzten drei schon 1986 im Designstudium – die ersten Skizzen wahrscheinlich in einem Kurs für Kunstgeschichte. Silke hatte aus der Zeit noch jahrelang eine frühe Zeichnung vom Bär auf dem Macintosh-Leiterstuhl statt Foto im Portemonnaie. Das Bild der Neunziger war zur Zeit der Entstehung noch eine Vorahnung, die sich aber durchaus bestätigt hat. Um die Zeichnungen hier zu veröffentlichen, fehlten noch einige Jahrzehnte. Dabei ist mir aufgefallen, dass ich aktuelles Design schon längst nicht mehr so wichtig nehme – das es aber der restlichen Welt genauso zu gehen scheint. Denn irgendwie sind die letzten 150 Jahre als modernes Design immer ständig verfügbar und was vorher als Avantgarde ständig in der Weiterentwicklung sein wollte, ist eine Möglichkeit unter vielen geworden, die mit den eigenen Gesetzen und Stilmitteln immer weiter um sich selbst kreist. "Moderne Klassiker" sind es wirklich geworden und genauso eine Mode wie die anderen historischen Stile, die seine Erfinder doch eigentlich überwinden wollten.
4 Kommentare:
Danke für den amüsanten und sehr anschaulichen Bericht über die Kunst- und DesignGeschichte der letzten 150 Jahre :-)
Die Zeichnungen sind genial und man hat die Stuhlklassiker und Lampen und Leuchten sofort vor Augen !
Falls mich jemand fragt: Ich finde diesen Nachmittag im Museum voll spannend ;-)
... und werde kurz mit Jack träumen von AutomobilKlassikern ...
und dann nochmal am ersten Rundgang teilnehmen ... bis gleich herzliche Grüße, Manu
@ Manu,
Es ist schon erstaunlich, wenn nach so vielen Jahren die Zeichnungen wieder auftauchen und eigentlich immer stehen bleiben können. Auch wenn damals bei den Leuchten noch etwas geschummelt wurde. So gibt es von der Wagenfeld-Leuchte eigentlich keine Stehleuchtenversion und auch die Leuchte im Jugendstil war eine Tischversion, die hier eindrucksvoll "hochgeblasen" wurde. Die einzige "Fehlstelle" ist in der Neuzeit die fehlende Europalette unter dem Eisbären...
LG Wolfgang
Es ist schon erstaunlich welche Themen hier mit den Bären alle behandelt werden und was man doch immer noch dazu lernen kann!Und erstaunlich finde ich auch wie interessant und kurzweilig sie rüber gebracht werden. Es lohnt sich wirklich diesen Blog zu verfolgen, auch wenn man es nicht immer klappt oder man nicht immer etwas dazu sagt. Der Proffessor Dr. Dr. Stuhl war ja völlig in seinem Element und richtig in Fahrt. Er hat mir gut gefallen.
Schön finde ich das die Bären sich an die Regelungen halten und Masken tragen. Sie sind ein großes Vorbild!
Gruß und schönes Wochenende Guilitta
Einfach wieder nur entzückend.....und unglaublich tolle Zeichnungen
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